Nina Kluth

Nora Sdun
Ausstellungseröffnung Kunstverein Göttingen, 2005

Guten Tag, ich freue mich. Schauen Sie sich bitte die Bilder von Nina Kluth an. Dabei werde ich kurz über Orte, Atmosphären, Ereignisse und Erwartungen sprechen. Natürliche Landschaften kennt man vor allem aus dem Fernsehen. Die uns nächste grüne Landschaft, die Peripherie um die Städte herum, müsste uns eigentlich die selbstverständlichste Heimatlandschaft sein, ist es aber aus irgendwelchen Gründen nicht, sie wirkt auf uns unordentlich, zersträubt und ein wenig verwahrlost.

Natur, natürlich! Aber nur vorausgesetzt, Natur ist das Paradies. Sicher und sauber. Natur wird ästhetisch reproduziert in Lyrik und Malerei. Natur ist versöhnlich. Natur ist auch Bedürfnisbefriedigung, konsumierbar. Man trägt diesem Bedürfnis Rechnung, indem man sich mit Surrogaten von Natur umgibt, auf Bildern meist. Die Natur ist übrigens auch ein Arschloch.

Natur ist aber besonders geeignet, Atmosphärisches zu transportieren, und zwar nicht als Naturwissenschaft, sondern als Kategorie der Malerei. Natur, wie wir sie auf den Bildern von Nina Kluth sehen, gibt es, sofern sie atmosphärisch ist, sonst nicht. Es ist eine sinnliche Erkenntnis von Natur.

Man muss diese Erkenntnis mehr einer Gemütsstimmung als der Natur zurechnen. Aber die Natur provoziert diese Stimmung. Natur ist neben ihrer beschreibbaren Dinghaftigkeit eben ständig im Aufbruch oder Durchzug begriffen, sodass man etwa sagt: „Der Wind ist schneidend.“ womit man zwar den Wind als physikalischen Gegenstand benennt, das Scheiden aber nicht ernstlich, also physikalisch meinen kann, aber eben viel besser, nämlich atmosphärisch, es ist ein Halbding, eine Empfindung.

Die Peripherie ist hier der Platz der Erscheinung, der Ort der Erwartung. Dabei ist mit dem Ort nicht der reale Raum gemeint, sondern der Raum in der Erscheinung. Peripherien gibt es real, aber auf den Bildern sind die Szenen keine stadtplanerischen Absonderlichkeiten, sondern, unabhängig von ihrer Realität, nur erwartete, erscheinende Wirklichkeiten. Das ist nicht mystisch, sondern ganz normal, so wie man bei einem schwarzblau zugezogenen Himmel sofort denkt – Regen, es regnet aber gar nicht. Es sind Wirklichkeiten, die wir erwarten. Hier: Laubüberfall. Inszenierung macht Wirklichkeit erst möglich, wenn sich eine Königin nicht entsprechend anzieht, wird man sie nicht als solche erkennen.

Als was treten uns diese Bilder entgegen? Als menschenleere. Von Vegetation beherrschte. Aus dem Winkel betrachtet, den man sonst immer übersieht, willentlich. Eine Art Agentenblick durch das Gestrüpp auf den Tatort. Und da gibt es auf allen Bildern eine Tanzfläche für eine Tat. Den Ort des Geschehens. Welches Geschehen? Was wird erwartet? Jeder wird nun, ganz nach Temperament, Morde, Taufen oder Heiratserklärungen draufprojizieren auf diese Tanzböden.

 

Nina Kluth malt Bilder wie Romananfänge.

Die meisten Romane beginnen schon im ersten Satz mit einem Ort, z. B.:

„Er lag der Länge nach auf dem braunen nadelbedeckten Boden des Waldes.“
(Ernest Hemingway, Wem die Stunde schlägt)

„Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen! Es grünten und blühten Feld und Wald …
“ (Johann Wolfgang Goethe, Reineke Fuchs)

„Wir starten in La Guardia, New York, mit dreistündiger Verspätung infolge Schneestürmen.“
(Max Frisch, Homo faber)

„Bei dreiunddreißig Grad im Schatten lag der Boulevard Bourdon vollständig verlassen da.“
(Flaubert, Buvard und Pecuchet)

„Gegen den Strich des Weizenfeldes drang, vom jenseitigen Rain Schafsblöken herauf.“
(Frank Schulz, Morbus Fonticuli)

 

Das waren jetzt vier Anfänge aus rund zweihundert Jahren Literaturgeschichte.
Man kann an diesen Beispielen ganz gut ermessen, dass sich auch in vierhundert Jahren nichts wesentlich ändern wird, wenn es darum geht, eine Erwartung zu produzieren, man muss lediglich einen Ort benennen, und schon geht es los. Und so müssen Sie sich auch die Bilder von Nina Kluth anschauen, warten Sie eine kleine Weile, und schon geht es los. Es sind also keine Besinnungsbilder, sondern Agentenbilder. Der Betrachter muss aufpassen. Ein Ereignis wird gleich stattfinden, und zwar nicht auf dem Bild, sondern im Auge.

Das heißt aber nicht, dass Sie die Bilder mit ihrer Stimmung beeinflussen können, sondern, dass Sie einen gestimmten Raum betrachten, der zu ihrer Stimmung in Diskrepanz stehen kann. Bildende Kunst kann einen Raum auffalten und dann so stehen lassen. Weitere Information zerstört das erwartete Ereignis. Das heißt, ganz kurz, nachdem der Ort aufgefaltet ist, muss man sofort aufhören mit der Erklärung, weil die Ereignisse sonst auf eine langweilige Offenkundigkeit hinauslaufen, für die man nicht extra die Augen aufmacht. Die exakte, sozusagen naturwissenschaftliche Benennung bleibt ein für alle Mal Teil der Behördensprache, zu der man sich gar nichts mehr vorstellen kann, weshalb man dann auch nichts mehr versteht.

Diese Paradoxie ist ganz reizend. Die Bilder von Nina Kluth zeigen also einen Ort, oft sogar den Straßennamen im Titel, aber nicht exakt genug, um Genaueres von ihm zu wissen, und gewinnen dadurch einen Überschuss an Ereignismöglichkeiten, die man sich nur darum vorstellen kann, weil man es eben nicht genau weiß, schließlich ist man sich als Betrachter aber doch ganz sicher, dass es sich um genau das Ereignis handeln wird. Das sind Agenten- und Projektionsprobleme. Man würde sehr gerne genau das sehen, was man erwartet. So wie man einen Mann verfolgt, weil man glaubt, dass er unter Verfolgungswahn leidet.

Lernen tut man allerdings nichts dabei, also nichts Handgreifliches, wie man ein Schwein schlachtet z. B. oder ein Haus verputzt, eine Hecke auslichtet oder Honig schleudert. Alle diese Kulturtechniken finden auch nicht in der Peripherie statt, sondern im Garten, und damit ist man sofort den Agentenstandpunkt los, die Beobachtung weicht einer Besserwisserei und eingehegten, informierten Gegenständen: Hacken, Kellen und Forken. Atmosphären gibt es natürlich auch im Geräteschuppen und auch beim Arbeiten, gegen ihr halbdinghaftes Wesen kann man aber nicht handhaben. Der „locus amönus“, der reizend gelegene Ort, ist transitiv und nicht zuhanden. Und er lässt sich zurzeit am besten in der Peripherie finden, einer Natur, die atmosphärisch noch nicht von der Bierwerbung eingeholt ist.

Das Schöne an diesen Orten ist nicht das malerisch Verwuschelte und dass Spießer einen solchen Ort bestimmt blöd finden, sondern die Halbdinghaftigkeit, der Überschuss. Dieser kommt an scheinbar überflüssigen Orten ungestört zur Entfaltung. Dieser Zustand ist ständig im Zerfließen begriffen. Wird er stillgestellt das heißt, sinnvoll nutzbar und durchstrukturiert und noch mit einem Label versehen, kann man den Ort nicht mehr gebrauchen. Nicht für diese Malerei.

Nora Sdun

Ausstellungseröffnung Kunstverein Göttingen, 2005